Auf Augenhöhe

Eine Predigt zur Geschichte vom Hauptmann aus Kapernaum (Matthäus-Evangelium, Kap. 8, 5-13)

 

Auf Augenhöhe sind die beiden.

Jesus und der römische Hauptmann.

Obwohl sie aus verschiedenen Welten kommen.

Sie treffen aufeinander, reden, hören zu, nehmen wahr, reagieren.

Und am Ende gehen sie wieder davon,

jeder auf seinem Weg, aber verändert und beschenkt.

 

Ich will diese Begegnung genauer anschauen,

weil ich davon lernen kann für die Begegnungen

in meinem Leben, in meiner Zeit.

 

Der Jude Jesus und der römische Hauptmann.

Was trennt sie? Und was haben sie gemeinsam?

Der Hauptmann ist Repräsentant der starken römischen Besatzungsmacht.

Er ist dem Kaiser in Rom unterstellt;

ist sein Befehlsempfänger und befehligt seinerseits etwa 100 Soldaten.

Er ist mit seinen Leuten und vermutlich weiteren Einheiten

in die Provinz Syrien abgeordnet, um dort die „pax romana“,

den römischen Frieden, zu sichern, notfalls mit Gewalt.

Als Befehlsgeber und Befehlsempfänger ist er Glied einer militärischen Hierarchie.

 

Jesus steht auf der anderen Seite.

Er ist Bewohner des besetzten Landes.

Einer von vielen. Ein Jude.

Predigend und heilend wandert er durch seine Heimat,

ohne Streitross und ohne Rüstung.

Er ist den Menschen nah und er bringt ihnen Gott nah;

eine Begegnung mit ihm verändert ihre Sicht auf die Welt,

weicht manches Mal Grenzen auf.

Viele erleben Heilung an Leib und Seele.

 

Von diesem Jesus hat der Hauptmann gehört.

Und offenbar ist er beeindruckt. Er nimmt Kontakt auf .

„Mein Kind liegt zu Hause und ist gelähmt und hat furchtbare Schmerzen.“

In welcher Sprache spricht er Jesus an?

Entweder hat er einen Dolmetscher mit

oder er hat sich die Sprache des Landes angeeignet.

Offensichtlich ist:

er hat sich mit den Sitten und Gebräuchen im besetzten Land beschäftigt,

denn als Jesus ihm spontan anbietet:

„Soll ich kommen und dein Kind gesund machen?“,

reagiert er zurückhaltend. „Ich bin nicht wert, dass du unter mein Dach gehst…“

Er weiß, dass es den Juden aus religiösen Gründen untersagt ist,

das Haus eines Nichtjuden zu betreten. Das respektiert er

und will Jesus durch eine Einladung nicht in Schwierigkeiten bringen.

 

Ich finde das großartig.

Es ist mir ein erster wichtiger Hinweis auf gelingende Begegnung:

die Gepflogenheiten und Werte meiner Gesprächspartner kennen und respektieren.

 

Dann kommt der Hauptmann zur Sache.

Und macht einen Vorschlag, der seinem Berufsalltag entstammt:

„Du kannst die Heilung doch einfach befehlen, Jesus. Aus der Ferne.“

Befehl und Gehorsam – damit kennt er sich aus.

Das sind die Koordinaten seiner Welt.

Und die traut er auch Jesus zu. Die krankmachenden Mächte

werden ihm gehorchen und weichen, wenn er es befiehlt .

 

Jesus lässt sich auf dieses Denken ein. Er wiegelt nicht ab:

„Wie kannst du so über mich verfügen?

Ich bin nicht einer von euch, die nach Befehl und Gehorsam leben.“

Jesus nimmt den Hauptmann und seine Welt ernst.

Und er nimmt sein Anliegen ernst: Hilfe für sein Kind.

Er lobt den Hauptmann und sein Vertrauen mit den Worten:

Solchen Glauben habe ich in Israel nicht gefunden.

Mehr Anerkennung geht kaum.

 

Anerkennung und Wertschätzung sind eine gute Grundlage

für jede Begegnung. Unterschiede achten, ohne abzuwerten.

 

Manche denken eher: In einer Gesellschaft, die gut funktioniert,

darf es keine großen Unterschiede geben,

sonst klappt das Zusammenleben nicht.

Wer neu dazukommt, muss sich an die anderen anpassen.

 

Das stimmt begrenzt: Die Sprache zu lernen, ist unerlässlich.

Es müssen aber nicht alle gleich sein oder sich einander angleichen,

um gut zusammen leben zu können.

Denn es gibt nicht nur eine Wahrheit.

Und: Es gibt nicht nur den einen Weg zur Wahrheit.

Es gibt unterschiedliche Wege.

 

Wer Vielfalt respektiert, wer die Hand auch und gerade da reichen kann, wo es Differenzen gibt, der / die stärkt das Zusammenleben.

Das ist nicht einfach. Es verlangt uns etwas ab,

z.B. die Bereitschaft, etwas über die andere Kultur und Tradition zu lernen,

so wie der Hauptmann es getan hat.

Oder sich eine andere Denkweise zu eigen zu machen, wie Jesus es konnte.

Die Geschichte aus dem Matthäusevangelium zeigt: es lohnt sich.

 

Der Präses unserer Landeskirche, Thorsten Latzel, hat zur aktuellen Impfdebatte einen Beitrag veröffentlicht, der in dieselbe Richtung geht.

„Goldene Regeln, wie wir über Corona diskutieren sollten.“

Darin heißt es u.a.:

 

  1. Wir reden nicht übereinander als „die Geimpften“ und die „Ungeimpften“, sondern wertschätzend als Menschen mit Menschen, gerade auch dann, wenn wir anderer Meinung sind.

 

  1. Jeder und jede muss die Möglichkeit haben, die eigene Meinung gesichtswahrend zu ändern. Denn auch nach der Pandemie werden wir weiter als Angehörige, Freunde, Kollegen miteinander umgehen müssen.

 

  1. Wir respektieren die Menschen, die in der Krise besondere öffentliche Verantwortung tragen.

 

  1. Über Sorgen und Ängste müssen wir miteinander reden. Wir widersprechen jedoch allen, die andere diffamieren, Lügen verbreiten oder gar zu Gewalt aufrufen.

 

Die Wahrheit ist nie eindeutig, auch in Coronazeiten nicht.

Der Weg, sie zu erkennen, kann nur von uns allen gemeinsam beschritten werden,

in einer ständigen Suchbewegung,

die geprägt ist von Respekt, Achtung und Toleranz.

 

Wer die Wahrheit für sich allein in Anspruch nimmt,

wer andere verteufelt oder gar bedroht, disqualifiziert sich selbst.

Er schließt sich selber aus der Gemeinschaft aus.

Jesus benutzt ein drastisches Bild:

Der / die wird hinausgestoßen in die Finsternis.

 

Welch ein Glücksmoment hingegen,

wenn wir im anderen ein Stück der Wahrheit  auch für uns entdecken.

So wie der Hauptmann in Jesus und Jesus im Glauben des Hauptmanns.

 

Das ist wie ein Stück vom Himmelreich, wo „sie kommen werden von Osten und Westen und mit Abraham und Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tisch sitzen.“ Welch ein Traum von globaler Gemeinsamkeit,

von gelungener Begegnung über Grenzen hinweg.

 

Auf Augenhöhe zusammen.

Für diesen Moment.

Irgendwann für immer.

 

Hanna Mausehund