Aufrechter Gang

 „Sei wie das Veilchen im Moose,

bescheiden, sittsam und rein,

nicht wie die stolze Rose,                       

die immer bewundert will sein.“

 

Wer kennt ihn, diesen Spruch aus dem Poesiealbum meiner Kindheit?

 

Ich vermute, dass ihn mehr Frauen als Männer kennen,

weil Poesiealben eher eine Sache der Mädchen waren als der Jungs

und weil Mädchen und Frauen meiner Generation oft so erzogen wurden:

bescheiden sein, eher im Hintergrund bleiben, sich nicht vorlaut hervortun,

bei Konflikten gar „den unteren Weg gehen“ – also eher Veilchen als Rose.

 

Manche von uns Frauen haben lange gebraucht oder

arbeiten immer noch daran, aus dem Schatten zu treten,

selbstbewusst um die eigenen Stärken zu wissen

und sie einzubringen ins Leben.

 

Dabei wird Selbstbewusstsein heutzutage mehr denn je eingefordert.

Wer sich auf eine Stelle bewirbt, muss klar und deutlich

die eigenen Talente benennen können,

muss wissen, warum gerade er / gerade sie

die ausgeschriebene Aufgabe ausfüllen kann, und zwar besser als andere.

Bescheidenheit bringt da nicht weiter.

 

Ich finde gut, dass Eigenlob salonfähig geworden ist.

Ich will doch auch vor mir selber bestehen und wissen:

Wer bin ich? Was kann ich? Was habe ich vorzuweisen?

Ich will meinen eigenen Weg gehen in dieser Zeit, in der es so viele Wege gibt.

 

Der Dichter Kurt Marti schreibt:

 

Bleib aufrecht, rät die Rose,

zeig Dornen, sei stolz,

beuge dich nur der Liebe“.

 

Das klingt ganz anders als das Poesiealbum.

Der aufrechte Gang darf sein.

 

Wobei der Trend auch ins Gegenteil kippen kann.

Gerade unter jungen Leuten gibt es einen unguten Druck

zur Selbstoptimierung.

Besonders gut dastehen, ohne jeden Makel, ohne Schwäche, unangreifbar –

fit, gesund, vernetzt, immer online,

vermeintlich unabhängig und selbstbewusst.

Kaum ein Portraitfoto in den sozialen Medien,

das nicht bearbeitet und aufgehübscht ist.

Wirklichkeit wird geschönt bis zur Unkenntlichkeit,

denn der anonyme Follower ist unbarmherzig und schnell mit Kritik

und vernichtendem Urteil.

 

Der Prophet Jeremia richtet sich an beide.

An diejenigen, die den Rat der Rose „Bleib aufrecht“,

schon nicht mehr brauchen, weil sie sehr aufrecht im Sattel sitzen –

und an diejenigen, die es schwer haben mit dem aufrechten Gang:

 

So spricht der Herr:

Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit,

ein Starker rühme sich nicht seiner Stärke,

ein Reicher rühme sich nicht seines Reichtums.

Sondern wer sich rühmen will, der rühme sich dessen,

dass er klug sei und mich kenne, dass ich der Herr bin,

der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden;

denn solches gefällt mir, spricht der Herr.“ (Jeremia 9, 22-23)

 

Der Prophet stellt diejenigen, die allzu fest im Sattel sitzen –

und vielleicht gehöre ich ja dazu – in Frage:

Worauf gründet dein Selbstbewusstsein?

Auf deinen materiellen Gütern, auf deinem Wissen,

deiner guten Schulbildung, deinen beruflichen Erfolgen,

auf deiner Stärke?

Auf Gesundheit und Fitness bis ins hohe Alter?

 

All das darf sein, natürlich, aber all das ist auch sehr zerbrechlich.

Was bleibt, wenn du morgen krank wirst,

wenn du deine Arbeit verlierst, dein gesichertes Auskommen?

Der gebildete, gesunde, starke, gutsituierte Mensch,

der ich vielleicht ja selber bin, muss sich in seinem Glück fragen lassen:

Ist all das letztlich eine verlässliche Lebensgrundlage?

 

Über Nacht kann ein Lebensgebäude zusammenstürzen,

so wie ein Haus, das jemand auf schlüpfrigen, sandigen Grund baute.

Und: haben andere in diesem Lebenskonzept noch Platz?

Sind sie im Blick, die anderen, die gerade nicht im Licht stehen,

sondern Hilfe brauchen?

 

Der Prophet verurteilt nicht; er kommt nicht mit der moralischen Keule;

er hinterfragt und er richtet den Blick neu aus, auf Gott.

Er sagt: rühme dich, dass du Gott kennst

und um seine Barmherzigkeit und Gerechtigkeit weißt.

 

Ich verstehe das so:

Bleibe dir bewusst, dass du Gottes Geschöpf bist, ein Original,

von ihm geschaffen und beschenkt mit Gütern und Talenten.

Bleibe dir bewusst, dass dein Leben und alles,

was du hast und bist, verdanktes Leben ist.

Schaue mit Demut auf das, was dir in den Schoß gelegt ist,

deine geistigen und körperlichen Fähigkeiten;

freue ich daran und lobe Gott dafür;

stelle deine Gaben nicht unter den Scheffel, sondern lass sie leuchten.

Du darfst stolz sein auf das, was du geleistet und geschaffen hast

in deinem Leben; doch bleibe dankbar;

nutze deine Güter zum Wohl anderer;

sei barmherzig mit den Schwächen deiner Mitmenschen,

denn auch du bist auf Barmherzigkeit angewiesen;

versuche gerecht zu sein und anderen zu ihrem Recht zu verhelfen

mit dem was du hast und kannst.

 

Der Prophet leitet menschliches Selbstbewusstsein von Gottbewusstsein ab.

Wer um Gott weiß und ihm einen Platz gibt im Leben,

kann auf sich selbst schauen mit Augen,

die das Maß nicht verlieren und barmherzig sind.

 

Wolfgang Huber, früherer Ratsvorsitzender der EKD, sagt:

„Der Mensch gelangt zum Menschsein nicht

durch seine Eigenschaften und sein Handeln.

Gott verleiht jeder und jedem eine besondere Würde und Bedeutung.“

 

In der von Gott verliehenen Würde liegt unsere ganze Kostbarkeit.

Sie ist unverlierbar. Auch im Scheitern, in Krankheit und Krise,

also an den Rändern des Lebens, bleiben wir, was wir sind:

Geliebt, getragen, beschenkt und ermächtigt zum Leben.

 

„Bleib aufrecht, rät die Rose,

zeig Dornen, sei stolz;

beuge dich nur der Liebe.“

 

Behalten wir den Rat der Rose im Kopf.

Wir sind ermutigt zum aufrechten Gang unter Gottes Himmel.

Halleluja! Lobe den Herrn!

 

Hanna Mausehund