Blickwinkel

Jesus ist ein Meister des Erzählens. Er erzählt Geschichten aus dem Leben, Alltagsgeschichten, in denen sich die Leute, die ihm zuhören, wiedererkennen. Er erzählt von einer Hausfrau, die den Sauerteig fürs Brot ansetzt, von einem, der unter die Räuber fiel, von Hirten und Bauern, Armen und Reichen. In jeder Geschichte erzählt er verborgen auch etwas von Gott, von Gottes Reich und Kraft im Leben.

Heute erzählt er von einem Bauern: Hört her! Ein Bauer geht über seinen Acker und sät. Seht ihr ihn? Mit weitem Schwung wirft er den Samen aus. Seine Schritte sind wiegend und fest. Er folgt einem immer gleichen Rhythmus: drei Schritte, ein Wurf, drei Schritte, ein Wurf. Großzügig sind seine Gesten. So großzügig, dass ein Teil des Saatguts daneben fällt, auf den Weg am Rand, zwischen die Disteln, auf die dicken Steine, die herumliegen. Was dorthin fällt, wird nicht aufgehen, es wird zertreten, von Vögeln gefressen, erstickt werden. Welche Vergeudung! Den Bauern stört es nicht. Er geht und sät, Furche um Furche. Die Verluste hat er einberechnet; der Ertrag am Ende wird sie um ein Vielfaches kompensieren. 100 fache Frucht wird sein Acker bringen. (Lukas 8, 4-8)

Ich mag diese Geschichte; ich mag sie, obwohl sie zunächst in die Irre führt. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die Verluste. Dreiviertel der Geschichte erzählt von Verlust. Das Saatgut auf dem Weg wird von Vögeln gefressen, die Körner auf den Steinen verdorren in der Sonne; die Saat zwischen den Disteln bringt nur kleine Pflänzchen hervor, die rasch wieder eingehen. Alles hin! Erst der letzte Satz berichtet vom Erfolg. Die Saat auf dem „guten Land“ geht auf und bringt Frucht. Der Eindruck entsteht, dass dreiviertel des Saatguts verdirbt und nur ein Viertel aufgeht. Doch das steht so nirgendwo. Tatsächlich wird wohl nur ein Bruchteil der Saat vergeudet, vielleicht 10% – auf Wegen, Steinen, zwischen Disteln. Mehr nicht. Die Art aber, wie Jesus erzählt, schärft den Kontrast: hier riesige Vergeudung, dort – trotzdem! – 100facher Ertrag. Und 100fach ist gigantisch. In Jesu Zeit galt ein vierfacher Ertrag als normal.

Ich höre Jesus erzählen und frage mich: Wie schaue ich eigentlich auf eine Sache? Sehe ich vor allem die Probleme, die Verluste, die Konflikte? Und: Mache ich sie wohlmöglich größer als sie sind? Wer dieser Tage Nachrichten liest oder hört, findet viele Beispiele einer eher defizitorientierten Berichterstattung:

Impfstofflieferung verzögert sich weiter.
Ministerpräsidenten uneins.
Coronazahlungen laufen nur schleppend.
Streit in Familie eskaliert.
Kirchenaustrittszahlen wieder gestiegen.

Mein Eindruck ist: schlechte Nachrichten stehen im Fokus. Ich lese allerorten von Steinen, Disteln, harten Wegen. Wenig von der 100fachen Frucht. Von gut funktionierender Nachbarschaftshilfe, von den ersten durchgeimpften Pflegeinrichtungen, vom Einfallsreichtum der Kulturschaffenden im Lockdown, von berührenden Begegnungen zwischen Kindern und ihren Erzieherinnen am KiTa-Zaun, von kreativen Angeboten der Kirchengemeinden, auch in Essen.

Noch persönlicher gefragt: Wie schaue ich auf mein Leben? Sehe ich vorrangig die Steine, Disteln, Irrwege oder sehe ich die Ressourcen und Chancen; das Land, das Frucht bringt? Habe ich vor Augen, was mir gut gelungen ist im Laufe der Zeit, worauf ich stolz sein kann? Weiß ich noch, wieviel Segen ich erfahre, wieviel Glück mir in den Schoß gelegt ist – trotz der Fehler, die ich mache; trotz der Fragen, die ich habe, trotz des ganzen Frusts dieser Wochen und obwohl ich Verluste erlebe? Der Acker meines Lebens hat karge Stellen, ohne Frage.

Aber es gibt auch das gute Land: und das bringt Frucht. Üppig und überfließend. Wenn Jesus Geschichten erzählt, will er, dass wir klüger werden, lebensklüger. Er will unser Vertrauen stärken: gegen die Vergeblichkeit steht die 100fache Ernte. Unterm Strich. In jedem Leben. Da steht ein Reichtum, der vielleicht überrascht, weil ich damit nicht gerechnet habe; ein Reichtum, der entdeckt werden will und gefeiert.
Es ist eine Frage des Blickwinkels: Sehe ich vor allem auf die unfruchtbaren Stellen meines Ackers; oder sehe ich in 1. Linie die reiche Ernte. Denn die ist ja da! Eine Fülle an Wachstum, Lebendigkeit, Begegnung, Freundlichkeit, Glauben. Ein Stück vom Reich Gottes mitten am Tag. Auch mitten im Lockdown.

Der Säemann wird nicht müde zu säen, großzügig, überall. Auch in meinem Leben. Manches werde ich nicht bemerken. Manches werde ich nicht trainieren. Manches wird brach liegen. Aber: vieles wird aufgehen und Frucht bringen für mich und andere. Darum will ich zuerst auf das „gute Land“ schauen. Will das Gelungene festhalten. Auf die Saat vertrauen.

Sie wird aufgehen. 100fach! Amen.

Hanna Mausehund