Das ganze Bild

Ich habe in den vergangenen Wochen ein altes Hobby neu entdeckt. – Puzzeln. Aus 1000 und mehr Teilen ein Bild zusammensetzen, das hat mich immer fasziniert. Und so erging es mir auch jetzt.
Erst mal begonnen, konnte ich kaum wieder aufhören. Es macht mir riesigen Spaß, geduldig Teilchen für Teilchen zu suchen, zu finden und an den passenden Platz zu fügen. Bis am Ende das ganze Bild erkennbar wird.

Manches im Leben gestaltet sich genauso. Wie ein Puzzle. Wir starten ein Projekt, übernehmen eine Aufgabe und arbeiten sie Schritt für Schritt ab. Hier ein Teil und dort ein Teil. Eins baut aufs andere auf – und wenn es gut geht, schauen wir am Ende auf ein gelungenes Ganzes. Projekt abgeschlossen. Aufgabe erledigt.

Nicht immer ist ein solcher Abschluss möglich. Manches Projekt bleibt unfertig. Aus welchen Gründen auch immer. Die spannende Frage ist, wie gehen wir damit um? Wie leben wir mit Fragmenten? Mit Bruchstücken, die nicht fertig wurden? Die eine Lücke lassen und gleichzeitig über sich hinaus weisen.

Im 1. Korintherbrief denkt der Apostel Paulus über Bruchstücke und Puzzleteile nach. Hören Sie einige Sätze aus dem 13. Kap.:

Denn unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, wird das Stückwerk aufhören.
Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind. Ich urteilte wie ein Kind und dachte wie ein Kind.
Als ich erwachsen geworden war, legte ich alles Kindliche ab.
Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht.
Jetzt erkenne ich nur Bruchstücke.
Aber dann werde ich vollständig erkennen, so wie Gott mich schon jetzt vollständig kennt.
Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.

Paulus schaut auf das Große, auf das Leben. Und erkennt: Was wir darüber wissen, ist Stückwerk. Was wir darüber sagen, ist Stückwerk. Wir kennen immer nur einen Teil. Das ganze Bild bleibt unseren Augen verborgen.

Wenn ich auf mein Leben schaue, richtet sich meine Aufmerksamkeit wie bei einem Puzzle zunächst auf die Randstücke, den Rahmen, der dem Bild Halt und Grenze gibt. Dazu gehört die Familie, in die hinein ich geboren wurde, der Kulturkreis, das Milieu, genetische Prägungen, die von Anfang an da sind und mich ohne mein Zutun begleiten.

Dann füllt sich das Bild mit Kindheit und Jugend, den Schulerfahrungen, der Ausbildung, mit Menschen, die in mein Leben hineinkamen und wichtig wurden. – Ich sehe in meine erwachsenen Jahre, sehe den Beruf, den Lebenspartner, Kinder und Enkel. Ich sehe Erfolge und Scheitern, verpasste und genutzte Chancen. – Ich lege das Älterwerden dazu, Abschiede und Neuanfänge; ich erkenne Herausforderungen, an denen ich gewachsen oder denen ich ausgewichen hin.
Träume füllen das Bild und Ängste; Glauben, Hoffnung und Liebe. Schuld und Versagen. Und Verletzungen, die noch immer schmerzen. Ich sehe Erwartungen – meine eigenen und die der anderen an mich. Freude erkenne ich, Lust und Vergnügen, lange Abende am Meer, Kaffee im Garten und Feiern mit Freunden.

So vieles, was das Bild Stück für Stück füllt. Und doch ist es immer nur ein Ausschnitt. Nie das Ganze. Je älter ich werde, desto mehr Geheimnis ist da, desto mehr Fragmentarisches. Vieles gelingt mir nicht. Auf manche Frage habe ich auch mit 61 Jahren keine Antwort. Im Gegenteil. Manche Fragen nehmen mehr Raum ein. Und mit Behauptungen werde ich vorsichtig. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild, sagt Paulus. Unklar und verschwommen. Zu Paulus´ Zeiten gaben Spiegel ihr Spiegelbild nicht 1:1 wieder, sondern verzerrt.

Was ich als Kind dachte und glaubte, was damals so selbstverständlich war und einen Sinn ergab, ist ein gutes Stück weggerückt. Es ist nicht mehr so einfach. Wer erwachsen wird, verliert die Unbekümmertheit und den klaren Blick. Wird manchmal ängstlicher, skeptischer, kritischer – doch hoffentlich auch gelassener, gereift und ein bisschen weise.

Und zur Weisheit gehört die Erkenntnis: Ich brauche nicht vollkommen sein; ich brauche nicht alles wissen; ich kann es gar nicht. Denn was ich weiß, ist Stückwerk. Was ich rede und tue, bleibt fehlerhaft. Fragment.

Der Religionspädagoge Fulbert Steffenski sagt:
Es gibt Leiden, das durch überhöhte Erwartung entsteht, durch die Erwartung, dass die eigene Ehe vollkommen sei; dass der Partner einen vollkommen erfülle; dass der Beruf einen vollkommen ausfülle; dass die Erziehung der Kinder vollkommen gelingt. So ist das Leben nicht. Die meisten Ehen gelingen halb, und das ist viel. Meistens ist man nur ein halber guter Vater, eine halbe gute Lehrerin, ein halber glücklicher Mensch, und das ist viel. Gegen den Totalitätsterror möchte ich die gelungene Halbheit loben.
Die Süße und die Schönheit des Lebens liegt im begrenzten Glück, im begrenzten Gelingen, in der begrenzten Ausgefülltheit. Hier ist uns nicht versprochen alles zu sein.

Die gelungene Halbheit loben. Annehmen, dass Vollkommenheit eine Größe der Zukunft ist.
Und zugleich schauen, was jetzt alles schon da und was möglich ist. Auch wenn manches fehlt, etliches besser sein könnte. Wir werden die Welt nicht in ein Paradies verwandeln, aber wir können sie dennoch lieben und achten und vieles zum Guten verändern. – Wir können nicht die vollkommene Liebe leben, werden uns immer wieder auch streiten, verletzen, auf die Nerven gehen. Aber wir können zu lieben versuchen, einer den anderen und auch uns selbst. – Diese Welt ist nicht ohne Unglück und Gefahr. Doch wir können auf beglückende Bruchstücke stoßen, sie sind Teile eines größeren, eines großartigen Ganzen.

Das Ganze ist Gott allein. Gott, der uns geschaffen hat, wie wir sind: begabt und begrenzt. Gott kennt uns durch und durch und schaut mit Liebe auf uns, auf alles Halbfertige und Fehlerhafte; er heilt, was verletzt ist und fügt die Bruchstücke gnädig zusammen.

Es kommt die Zeit, in der sich uns das ganze Bild erschließt, unser ganzes Leben, das Geheimnis Gottes und der Welt. Vielleicht bei unserem letzten Atemzug, vielleicht schon vorher in einem wunderbaren Moment des Glücks und der Erfüllung.

Jetzt nur Bruchstücke, sagt Paulus, aber dann. Dann am Ende die Liebe ganz und gar. Sie ist, was bleibt. Sie ist, worauf alles ankommt. Das Größte. Gott hält sie für uns bereit. Amen.

(Pfarrerin Hanna Mausehund)