Mit leeren Händen

 

Jesus sagte aber zu einigen, die überzeugt waren, fromm und gerecht zu sein, und verachteten die andern, dies Gleichnis:
Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stand und betete bei sich selbst so: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme. Der Zöllner aber stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig! Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden. (Lukas 18,9-14)

Das Orgelvorspiel hatte schon begonnen als sie die Kirche betrat. Die Bänke waren alle belegt und sie überlegte, ob sie stehen bleiben sollte. Doch dann erspähte sie doch noch einen freien Platz und schlich sich leise den Gang entlang. Ein kurzer Blick von dem Mann in der Reihe. Ein aufmunterndes Lächeln und sie nahm Platz. Der Priester begann zu sprechen, und sie hatte kurz wieder den Eindruck, in einem falschen Film zu sein. Was machte sie eigentlich hier? Die katholische Liturgie war ihr fremd. Sie wusste auch, dass sie nicht zum Abendmahl willkommen war. Doch das machte ihr nichts aus. In der voll besetzten Abendmesse ging sie eh schnell unter.
Sie wartete. Wartete auf diesen einen Satz, für den sie seit ein paar Wochen sonntags abends in diese Kirche kam. Ihre Freunde meinten sie spinne. Du bist doch evangelisch durch und durch, warum auf einmal die katholische Messe? Sie konnte es nicht genau erklären. Konnte nicht erklären, warum sie dieser eine Satz so berührte. Der Priester begann mit den Einsetzungsworten: „Der Herr Jesu, in der Nacht da er verraten wurde…“ Und dann, kurz vor der Austeilung der Hostie, war es endlich soweit. Sie kniete sich nieder und sprach die Worte: „Herr ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.“

„Singt ihr bei euch im Gottesdienst eigentlich auch immer diese ‚Wurm-Lieder‘?“. „Was für ‚Wurm-Lieder‘ denn?“, fragte ich belustigend. „Na ja, so was in die Richtung ‚Ich bin ein so kleiner Wurm. Ich bin ein nichts,‘“ antwortete meine Freundin etwas beschämt. „Nein, so was singen wir nicht“, sagte ich. „Ich hasse es, wenn wir es singen. Ich fühle mich ganz und gar nicht wie ein Wurm“, platze es aus ihr heraus. „Warum muss man sich in der Kirche immer so klein machen?“

Wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden;
und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden
.

Mit welcher Haltung stehst du vor Gott? Aufrecht mit gestrecktem Kreuz oder kniend den Kopf gesenkt?

In dem Gleichnis wird die demütige Haltung mit dem Blick zum Boden klar favorisiert. Der Zöllner ist es, der am Ende des Tages gerechtfertigt nach Hause geht. Wird also in diesem Gleichnis das Kleinmachen glorifiziert? Das „das ist doch nicht der Rede wert“ und „um mich geht es hier doch gar nicht.“
Mir kommen Bilder aus dem Luther Film in den Sinn: Luther macht in Rom eine große Wallfahrt und geht dabei auf Knien die 28 Stufen der Basilica di San Giovann hinauf. Ein schmerzhafter Anblick. Ist das mit Erniedrigen gemeint? Seine eigenen Gefühle, Wünsche und Schmerzen unterdrücken? Das Mönchstum hat diese Haltung ohne Frage perfektioniert – jedenfalls in seiner Idealform.

Mit welcher Haltung stehst du vor Gott?
Wenn ich an diese Traditionen denke, dann fühle ich mich doch eher dem Pharisäer zugehörig. Ich stehe da wie der Pharisäer, weil mir sein Gebet nah ist.
Ich faste zwar nicht zweimal die Woche und spende auch nicht zehn Prozent meines Gehaltes, aber im Großen und Ganzen bin ich ein anständiger Mensch. Und das kann ich auch in einer aufrechten Haltung sagen. Es ist jetzt auch nicht so, als müsste ich mich dazu besonders zwingen.
Das Bedürfnis zu klauen hatte ich noch nie. Dafür darf ich doch dankbar sein.
Mich darüber freuen, dass ich nicht so bin wie die anderen.
Nicht bei Großdemos ohne Masken die zweite Welle propagiere,
keine Hetzkommentare gegen Politiker schreibe oder anderen erkläre, dass sie keine guten Christen sind. Ich bin stolz auf das, was ich nicht bin. Kein Nazi, keine Kriminelle, keine Verschwörungstheoretikerin. Und all das ist auch wirklich gut.

Doch von wem bekomme ich diese stolze Haltung und mein Selbstbewusstsein? In meinem Pharisäer-Gebet schaue ich nach rechts und nach links.
Mein Blick ist auf alles gerichtet, was ich nicht bin.
Ich sehe den Zöllner neben mir, aber nicht Gott vor mir.
All das, wofür ich dankbar bin, bin ich durch ihn.
Er gibt mir die Kraft für die Taten, auf die ich stolz bin.
Er stärkt meinen Rücken. Lässt mich aufrecht stehen.

Mit welcher Haltung stehst du vor Gott?
Am Ende des Tages muss ich mir eingestehen, dass all das, was ich bin, Gottes Geschenk ist. Dass ich nicht kriminell geworden bin, hängt nicht nur aber zu großen Teilen mit dem sozialen Kontext zusammen, in dem ich aufgewachsen bin. Dafür kann ich dankbar sein. Ja, und ich muss mir auch eingestehen, dass ich doch eine Räuberin und Verbrecherin bin. Ich versuche zwar auf Plastik zu verzichten und weitergehend nachhaltig zu leben, aber es gibt so vieles, was ich nicht tue. Ich trage keine Fair Trade Kleidung und bis vor ein paar Jahren bin ich auch viel geflogen. Nur dass ich dafür nicht ins Gefängnis komme und die Folgen auch nicht unmittelbar sehe. Dafür müssen Menschen in anderen Ländern zahlen. Und ich bin froh, dass ich nicht so bin wie sie. Dann wäre ich nämlich ganz schön arm dran.
Ich strenge mich an meiner Verantwortung gerecht zu werden und kann doch nur immer wieder scheitern. Bin gefangen in einem Netz aus Fallen, in die ich immer wieder tappe. Mal bewusst, mal unbewusst.

Am Ende des Tages erkenne ich meine eigene Begrenztheit an und stehe doch wie der Zöllner vor Gott. Nicht unbedingt mit einem gesenkten Blick. Ich stehe dort meinem Gott gegenüber. Mit leeren Händen. Empfangend.
Ich bin überzeugt, dass ich kein Wurm bin und dass Gott mich auch nicht klein halten will. Dass es nicht darum geht, hinter Demut zu verschwinden.
Aber vor Gott brauche ich mich auch nicht extra groß zu machen. Kann es auch gar nicht. Er ist es, der mich groß macht.
Wenn ich mit ihm spreche, dann sind nur wir beide da. Alle anderen um mich herum verschwinden.
Und ich kann beten: Herr, ich bin nicht genug. Ich bin mir selber nicht genug. Ich weiß, dass nicht alles, was ich tue, perfekt ist. Ich bin nicht genug, aber wenn du, Herr, das, was mir zum Menschsein noch fehlt, auffüllst, dann erfahre ich Heilung.
Oder in anderen Worten: Gott, sei mir Sünder gnädig.“ Und es verändert etwas, wenn ich so bete. Es verändert den Blick, mit dem ich auf die anderen Menschen schaue. Nach diesem Gebet fällt es mir schwerer zu denken zum Glück bin ich nicht so und so. Sind mir die Ansichten noch so fremd, versuche ich den Menschen dahinter zu sehen. Ein Sünder so wie ich.

Als sie das Kirchschiff verließ, brach schon die Dämmerung herein. Mit ihr strömten die anderen Besucher heraus und man hörte fröhlich „Hallos“ und „Schön dich zu sehen“. Morgen würde die neue Woche starten. Sie hatte sich viel vorgenommen und würde doch vieles nicht schaffen. Doch in diesem Moment machte ihr, dass alles keine Angst. Gott wusste um ihre Grenzen und ihre Seele war gesund.

Vikarin Charlotte Behr