Staunen

Die vierte Kerze brennt am Adventskranz. Heller geht es nicht. Wenn ich in der Dämmerung durch die Straßen von Steele fahre, kommt es mir vor, als wären die Häuser dieses Jahr noch mehr beleuchtet als sonst. Lichterketten, blinkende Tannenzapfen, Weihnachtsmänner und Lichter-Shows. Auch wenn es nicht immer ganz meinen Geschmack trifft, erwische ich mich dennoch staunend darüber, was Menschen für einen Aufwand betrieben haben, ihr Haus zu dekorieren. An jeder Ecke gibt es etwas zu entdecken. Um das Staunen soll es in dieser Andacht gehen.

Sara hält ihren Kopf so dicht an die Zeltplane, dass der Geruch der Tierhäute ihr in die Nase steigt. Draußen unter einer Zeder sitzen die Männer und essen den Kuchen und das Kalb, die sie ihnen in der Schnelle zubereitet hatte. Abraham, ihr Mann, hatte vom ersten Moment an mehr in den Männern gesehen. Er war davon überzeugt, Gott selbst besuchte sie und warum sollte es auch nicht so sein? Schon seit Jahrzehnten begleitete Gott sie auf ihrem Weg und sie hielten sich an seine Weisung. Auf sein Geheiß hatten sie ihre Heimat verlassen und waren nach Kanaan gezogen.
Die Männer unterhalten sich. Sara hört ihren Namen und spitzt die Ohren. „Wo ist deine Frau?“, fragt einer von ihnen. Abraham deutet auf das Zelt. Aufgeregt macht sie einen Satz vom Zelteingang weg. „Ich will wieder zu dir kommen übers Jahr; siehe, dann soll Sara, deine Frau, einen Sohn haben,“ sagt der Mann laut und deutlich. Da entfährt Sara unwillkürlich ein Lachen. Tief in ihrem Inneren befreit es sich leise und nicht hörbar. Was für Worte! Das kann doch nicht sein! Lang genug haben sie und ihr Mann auf Nachwuchs gewartet. Sie blickt auf ihre faltigen Hände und streicht sich über die gebeugte Wirbelsäule. Sie sind beide alt. Greise. Der Tod ist näher als neues Leben, das steht fest.
Und sie hört wie Gott weiterspricht. Ein Boote Gottes, ein Mann oder Gott selbst. Das ist für sie nicht von Bedeutung. „Warum lacht Sara und spricht: Sollte ich wirklich noch gebären, nun, da ich alt bin? Sollte dem HERRN etwas unmöglich sein? Um diese Zeit will ich wieder zu dir kommen übers Jahr; dann soll Sara einen Sohn haben.“ Sie hält die Luft an. Wie hatte er ihr Lachen hören können, wo es doch tief in ihrem Inneren erschallt war? Vorsicht macht sie einen Schritt zum Zelteingang. Verbergen hat keinen Sinn mehr. Sie streckt den Kopf aus dem Eingang und schaut den Mann an. Verlegen sagt sie: „Ich habe nicht gelacht“ und kommt sich dabei vor wie ein Kind, das man bei etwas ertappt hat. Er antwortet bestimmt: „Es ist nicht so, du hast gelacht.“

Diese Geschichte hat Sara in ihrer Auslegungsgeschichte den erhobenen Zeigefinger eingebracht. Während Maria auf die Ankündigung der Geburt ihres Sohnes antwortet: „Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast“, lacht Sara in sich hinein. Die einzigen Worte, die Gott direkt an Sara richtet, klingen tadelnd: „Nein, es ist nicht so, du hast gelacht“. Doch man kann diese Worte auch anders verstehen. Eher als eine Bekräftigung ganz in dem Sinne: „Na klar hast du gelacht! Was sollst du auch anderes tun, als zu lachen, wenn mein Handeln so anders ist als alles, was du je erwartet hättest. So überraschend und gegen alle Logik, die du kennst. Völlig verrückt.“ Wenn man es so versteht, dann tadeln die Worte Gottes nicht das Lachen selbst, sondern die Tatsache, dass Sara nicht zu ihrem Lachen steht. Nicht dazu steht, dass es sie spontan überwältigt hat und sie vor Überraschung und Erstaunen lachen musste. Das Lachen wird von Gott bestätigt: „Du hast gelacht. Du hast zurecht gestaunt!“

Staunen ist immer ein Risiko. Wer staunt, der steht einmal dumm da: Mit aufgerissenen Augen, offenem Mund und hängenden Schulter. Oder ebenso wie Sara mit einem spontanen Lachen, ertappt beim Überwältigt-Sein. Wenn du überrascht ins Staunen gerätst, dann ist all deine Selbstsicherheit mit einem Mal verloren. Denn wer staunt, gerät für einen Moment aus dem Gleichgewicht.
Wer staunen will, der muss sich angreifbar machen, muss die Wahrheit und Gewissheit, die er mit sich durchs Leben trägt, als vorletzte sehen lernen. Denn ins Staunen geraten wird immer dann, wenn das, was wir wahrnehmen, den Horizont des uns Bekannten übersteigt.
Wie sehr sehne ich mich nach diesem staunenden Lachen von Sara. Auch mir kommt im Moment vieles unglaublich vor, aber leider nicht immer im positiven Sinn. Ich merke, wie ich mich immer noch an das mir Bekannte klammere. Meine Überzeugung, wie allein Weihnachten gefeiert werden kann, mit Gottesdienst und Familienbesuch. Was ist, wenn ich lerne, auch diese Wahrheit nicht als die Letztgültige anzusehen. Mich überraschen lasse von dem, was sein kann – auch in Corona-Zeiten. Echtes Staunen ist nicht machbar, ebenso wie ein unwillkürliches Lachen. Aber ich möchte Weihnachten entgegengehen in der Hoffnung darauf, dass ich staunen werde. Denn Weihnachten ist auf dieses unbändige Staunen angelegt, auf einen offenen Mund und ein Lachen.