Wahrheit ist…

„O komm, du Geist der Wahrheit, und kehre bei uns ein!
Verbreite Licht und Klarheit, verbanne Trug und Schein…“

So heißt es in einem Pfingstlied von Philipp Spitta, das in unserem Gesangbuch steht (Nr. 136). Nach über einem Jahr im Ausnahmezustand mit einer Flut an Nachrichten, Interviews, Talk-Shows, Kommentaren zum Thema Corona wird diese Bitte auch zu meiner persönlichen Bitte. Ich sehne mich nach dem „Geist der Wahrheit“, ich sehne mich nach Licht und Klarheit in unseren Gedanken und Begegnungen.

Täglich stürzen so viele Informationen auf mich ein! Aus Radio, Fernsehen, Zeitung, Facebook, EMail. Es fällt mir zunehmend schwer, die Geister zu scheiden: was ist Fakt und was ist Fake? Wo werde ich sachlich informiert, wo bewusst manipuliert? Im Gespräch mit anderen höre ich unterschiedliches: Der eine hat das gelesen, die andere etwas anderes. Im Extremfall spaltet die (Pandemie-)Politik unseres Landes ganze Familien und Nachbarschaften.

Dazu kommt, dass wir müde sind. Müde der vielen Einschränkungen. Wir alle sehnen uns nach Begegnung, nach Berührung, nach Aufbruch und Normalität. Es ist so schön, dass sich zurzeit Entspannung andeutet. Wir alle brauchen Nähe, gemeinsames Erleben, Toben, Spielen, Lachen – ohne Abstand und Kontaktbeschränkung.

„O komm, du Geist der Wahrheit, und kehre bei uns ein!
Verbreite Licht und Klarheit, verbanne Trug und Schein…“

Die Jünger erleben nach Jesu Himmelfahrt in ähnlicher Weise Müdigkeit, Verunsicherung und Frust. Was soll werden? Wie kann es in Zukunft weitergehen ohne Jesus? Ohne seine Inspiration, seine heilenden Worte? Was bleibt von alldem und was hat es mit dem Tröster auf sich, den er versprochen hat, dem heiligen Geist? Fragen über Fragen. Sie haben sich zurückgezogen, um darüber nachzudenken, vielleicht auch, um einfach ihrer Trauer Raum zu geben. Sie fühlen sich allein; das ist kein schönes Gefühl.

„Da geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Wind und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen zerteilt wie von Feuer, und er setzte sich auf einen jeden von ihnen und sie alle wurden erfüllt vom Heiligen Geist und fingen an zu predigen in anderen Sprachen, wie ihnen der Geist gab auszusprechen.“

So erzählt es die Pfingstgeschichte nach Lukas (Apostelgeschichte, Kap. 2). Sie nimmt uns hinein in eine unglaubliche Dynamik. Diese Dynamik reißt die Jünger von den Stühlen. Sie reißt sie aus Müdigkeit, Verunsicherung und Frust. Gottes Geistkraft kommt über sie wie ein gewaltiges Naturphänomen, wie Sturm und Feuer, wild, gefährlich, unkontrollierbar. Sie können sich gar nicht wehren. Es drängt sie nach draußen, auf die Straße, unter die Menschen, und der Mund geht ihnen über. Ich versuche mir das vorzustellen: einfache Fischer, Bauern, Zollbeamte, die gerade noch wie gelähmt zusammen saßen, wachsen über sich hinaus und fangen an zu reden als hätten sie nie etwas anderes getan, begeistert und begeisternd – und alle, die sie hören, verstehen, worum es geht.

Das Pfingstwunder ist ein Kontakt- und Kommunikationswunder. Die Geistkraft Gottes überwindet Abstand, sie relativiert die Grenzen von Sprache, Herkunft, Bildung, Hautfarbe und bringt Menschen zusammen. So dass sie gemeinsam staunen und sich fragen: Was passiert hier gerade? Was geschieht mit uns? Ist das real? Und sitzen wir einer Sinnestäuschung auf? Die Wahrheit ist selten eindeutig.

Zusammen und nicht allein, trotz Abstand zusammen und nicht gegeneinander – das ist mir eine der wichtigsten Wahrheiten aus dem letzten Jahr. Solidarisch sein, immer noch und immer wieder, Rücksicht nehmen auf die Schwachen, mehr WIR und weniger ICH, Geduld haben, Respekt zeigen vor den schwierigen Entscheidungen der Politiker, auch wenn nicht alles optimal läuft; und vor allem: einander Mut machen, Vertrauen haben in die Geistkraft Gottes, die uns versprochen ist. Sie lässt uns über uns hinauswachsen, sie lässt uns die Geister scheiden und erkennen, was jetzt wahr und richtig ist.

„O komm, du Geist der Wahrheit, und kehre bei uns ein!
Verbreite Licht und Klarheit, verbanne Trug und Schein…“

Welche Wahrheit bringt uns der Geist Gottes, der Tröster?
Ich weiß nicht, woran der Liederdichter Philipp Spitta dachte, als er sein Lied schrieb.
ich weiß nicht, was für Sie die Wahrheit ist.

Für mich ist Wahrheit, dass das Leben unendlich kostbar ist, weil es so zerbrechlich ist.
Wahrheit ist, dass ich nicht allein bin auf dieser Welt, sondern getragen von Menschen,
die vor mir da waren und den Boden bereit haben, auf dem ich jetzt stehe; getragen auch von Menschen, die heute mit mir unterwegs sind, die mit mir glauben und fragen und zweifeln und hoffen.
Wahrheit ist, dass die Augen der Liebe mehr sehen als die Augen von Gleichgültigkeit, Vorurteil und Herablassung.
Wahrheit ist, dass ich immer wieder voll Furcht bin, aber in meiner Furcht von Gott gehalten bleibe.
Wahrheit ist, dass ich mir und anderen Vergebung zugestehen kann.
Wahrheit ist, dass ich jeden Tag den Frieden probieren kann, direkt vor meiner Haustür.
Wahrheit ist, dass Aufrichtigkeit und klare Rede weiterführen.

Die Wahrheit ist, dass Gott mich mit seiner Geistkraft beschenkt,
die mich liebt und trägt, auch dann, gerade dann, wenn ich nicht mehr kann;
die mich inspiriert und kreativ sein lässt; die mich manchmal mit sich reißt,
die mir hilft, Abstand zu überwinden und das Leben und die Menschen trotz allem zu lieben.

Um diese Geistkraft will ich bitten:

„O komm, du Geist der Wahrheit, und kehre bei uns ein!
Verbreite Licht und Klarheit, verbanne Trug und Schein,
gieß aus dein heilig Feuer, rühr Herz und Lippen an,
dass jeglicher getreuer den Herrn bekennen kann.“

Gesegnete Pfingsten wünscht Ihnen
Ihre Pfarrerin Hanna Mausehund