Wegschmeißen und behalten

Was vom vergangenen Jahr wollen Sie am liebsten wegschmeißen und was behalten?

Am Ende des Jahres steht eine im Dunkeln am Fenster und schaut auf den Regen, der im Lichtkegel der Laterne tanzt. In Gedanken öffnet sie einen großen Koffer – das hatte sie mal irgendwo in einem Kalenderblatt als Anregung gelesen – und sie packt aus.
Manches will sie wegschmeißen, einiges behält sie.

Ja, vieles kann weg.
Corona ganz klar. Quarantäne mit der ganzen Familie und home schooling. Die kranke Mutter und Nachrichten über die Nachbarin im Pflegeheim, die kein Besuch bekommen kann. Nur weg damit.
Die vielen Spaziergänge – im Herbst mit Freunden und einer Thermoskanne Tee: Können bleiben. Und auch die Video-Anrufe mit alten Studienfreunden, mit denen sie dieses Jahr mehr Kontakt hatte als sonst.
Die Wochen auf der Arbeit. Planung, die immer wieder abgesagt werden mussten. Auch weg. Nur die Kaffeepausen in der Küche, die können mit.
Der fiese Streit im Sommer, dessen Worte immer noch brennen und so schnell nicht vergessen werden können. Weit weg damit.
Das Wochenende in Bayern. Eine gute Entscheidung, auch wenn sie es erst absagen wollte. Dass das noch geklappt hat, ein Geschenk. Unbedingt behalten und gerne mehr davon.

Was vom vergangenen Jahr wollen Sie am liebsten wegschmeißen und was behalten?

In der Ferne geht eine Rakete hoch. Rote und grüne Funken fallen vom Himmel.
Wenn das so einfach wäre! Einfach das wegwerfen, was zu schwer ist. Und mit leichtem Gepäck weiterziehen. Geht nicht alles noch da.
Ein Wunder, was man alles so tragen kann. Ein Wunder auch, wer sich überraschend dazu gesellt hat, um ihr Tragen zu helfen.

In Gedanken hebt sie den Koffer und sieht sich losziehen. Mit großen Schritten ins neue Jahr. Doch dann bleibt sie sofort wieder stehen. Wo sie herkommt, das weiß sie ganz genau. Ihr Koffer kann Geschichten davon erzählen. Dass sie weitergehen muss, auch klar. Anders geht es nicht. Aber wohin es geht, auf welchem Weg, das kann sie nur ahnen. Ein weiteres Jahr mit Ungewissheit, mit der Pandemie. Das ist zum Heulen. Wohin wird ihr persönlicher Weg führen? Und wohin geht es mit der Welt? Wird der Impfstoff gerecht verteilt? Die Flüchtlingslager auf Lesbos endlich evakuiert? Wann werden wir in den Gottesdiensten wieder unbeschwert singen können, wie wir es gewohnt sind?

Und der Herr zog vor ihnen her,
am Tage in einer Wolkensäule,
um sie den rechten Weg zu führen,
und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten.

Ich sehe das Volk Israel am Rande der Wüste stehen. Die Fußspitzen berühren schon den Sand. Vor ihnen liegt das Ungewisse. Vielleicht dreht sich einer noch einmal um. Schaut zurück. An dem Stein da habe ich mich gestoßen. Dort bin ich kurz gestrauchelt und habe mich dann wieder gefangen. Und Arbeit. Ganz viel Arbeit liegt hinter ihnen. Eine anderer schaut nach vorne. Dahin soll es gehen. Verrückt, man kann absolut nichts erkennen. Nichts als Staub und Sand. Vertraue, sagt die andere. Was vor ihnen liegt, kann man nur ahnen. Vielleicht würden sie immer noch dort stehen, wenn da nicht diese Erscheinung zu sehen gewesen wäre. Am Rande des Blickfeldes immer ein paar Schritte voraus. In der Nähe, aber nicht mitten unter ihnen. Eine stabile Wolke am Tag. Festes Feuer in der Nacht. Stetig und doch in Bewegung.

Am Rande der Wüste erinnern sie sich an die Heuschrecken, die den Himmel verdunkelt hatten. Wie sie sich in den Häusern verbarrikadiert hatten, um zu warten, dass Gott vorübergeht. Er erschien immer anders, als sie ihn kannten. Auch hier in der Wüste. In Gestalt dieser Wind-und Feuersäule. Verdunkelte er ihr Helles und leuchtete in der Dunkelheit. Grenzte sich ab von dem, was war. Er legte Vertrauen in ihr Herz und ihre Beine.

Wo stehen wir heute? Die Fußspitzen berühren vielleicht schon den Sand. Wir schauen zurück zu dem, was wir kennen. Zu dem, was wir hinter uns lassen wollen, ganz schnell. Schauen nach vorne. Wo wir herkommen, das wissen wir. Und das es weitergehen muss – das auch. Aber wohin es geht und auf welchem Weg, das können wir nur ahnen. Erkennen wir Gott, wenn wir F euer und Wolke sehen?

Im neuen Jahr steht eine am Fenster und schaut in die Dunkelheit. In der Hand ein Glas Sekt. Und inmitten der Knallerei erschallen die Glocken der nahen gelegenen Kirche. Gehen mit ihrem dumpfen Klang voran ins neue Jahr. Sie denkt wieder an ihren Koffer. In diesem kurzen Moment merkt sie, dass er ihr gar nicht mehr so schwer vorkommt.

Und der Herr zog vor ihnen her,
am Tage in einer Wolkensäule,
um sie den rechten Weg zu führen,
und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten.

Ich wünsche Ihnen ein frohes Neues Jahr. Ihre Vikarin, Charlotte Behr