Ein Stück Eden

Ich sitze in meiner Wohnung. Will kurz in Ruhe einen Kaffee trinken, bevor ich mit der Arbeit starte. Das Radio läuft und bombardiert mich mit Kurznachrichten. Das Feuer in Moria. Das Versagen der EU. Die Frage nach der Schuld. Rechtsextreme Chat-Gruppe aufgeflogen. Im Westen der USA wüten weiterhin Waldbrände.
Feuer. Rechtsextremismus. Wieder Feuer. Es folgt ein Feature darüber, wie die Pflegeheime sich auf den Corona-Herbst vorbereiten. Ja, wie soll das werden, frage ich mich. Weiterhin Lüften bei der Kälte? Auf meinem Handy Bildschirm tauchen Videos aus Moria auf. Familien, die in der Hitze unter freiem Himmel campen. Fehlendes Wasser. Mein Kaffee ist kalt und ich merke, wie es mir zu eng in meiner Wohnung wird. Ich habe das Gefühl, die Wände rücken mit jeder weiteren Nachricht näher. Ich gehe zum Fenster und öffne es. Setze mich an den Schreibtisch. Mein Kopf tut weh. Ich hätte doch den Kaffee trinken sollen. Vor dem PC starre ich das leere Dokument an. Ich stehe wieder auf. Muss raus. Schlüpfe in die Schuhe und zieh die Tür hinter mir zu. Die S-Bahn bekomme ich gerade noch so. Eine U-Bahn weiter bin ich endlich da.

Der Grugapark liegt vor mir und ich gehe den Pfad entlang. Erst hier werden meine Schritte wieder etwas langsamer. Vorbei an der Orangerie setzte ich mich auf einer kleinen Anhöhe auf eine Bank. Vor mir steht eine Esskastanie und ich kann die stacheligen Früchte zwischen den Blättern erkennen. Daneben erstreckt sich eine Wiese und in der Ferne kann ich einen kleinen Teich erahnen. Der Wind streicht mir leicht durchs Gesicht. Es wird Herbst, aber noch scheint die Sonne. Ich atme tief ein und aus. Genieße die frische Luft. Das Pochen in meinem Kopf beruhigt sich. Ich schaue in den blauen Himmel. In dem Beet neben mir summen die letzten Bienen, die wie ich den Sonnenschein genießen. Rosa, lila und weiße Dahlien strecken ihre Blüten zur Sonne. Dazwischen das Gelb der Sonnenblume und lavendelfarbene Astern. Neben ihnen komme ich mir schon fast farblos vor. Nach einer Weile stehe ich auf und gehe den Abhang die Wiese hinunter, am Teich vorbei zum Bauerngarten. An den Apfelbäumen hängen viele rot-gelbe Äpfel und die Äste des Quittenbaums biegen sich von dem Gewicht der runden Quitten. Für den Moment brauche ich nichts mehr als diesen Anblick.

Am Anfang der Bibel steht eine Erzählung von einem sorglosen Ort, den Garten Eden:
An dem Tag machte JHWH, Gott, Erde und Himmel. Und alles Strauch des Feldes war noch nicht auf der Erde und alles Kraut des Feldes war noch nicht gesprossen. Denn JHWH, Gott, hatte noch kein Regen auf die Erde fallen lassen. Und kein Mensch war da, um den Erdboden zu bearbeiten. Und Nebel stieg auf von der Erde und tränkte alle Oberflächen der Erde. Und JHWH, Gott, formte den Menschen aus dem Staub des Erdbodens. Und er blies in seine Nase Atem des Lebens. Und der Mensch wurde zu einem lebendigen Wesen. Und JHWH, Gott, pflanzte einen Garten in Eden im Osten und dorthin setzte er den Menschen, den er geformt hatte. Und JHWH, Gott, ließ vom Erdboden alle Bäume wachsen, begehrenswert anzusehen und gut zu essen. Und den Baum des Lebens in der Mitte des Gartens und den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Und ein Fluss ging aus von Eden, um den Garten zu tränken und von dort teilte er sich und wurde zu vier Anfängen: Der Name des ersten ist Bischon; er umfließt das ganze Land Hawila. Dort ist das Gold und das Gold dieses Landes ist gut. Dort ist Bedolachharz und Schoam Edelstein. Und der Name des zweiten Flusses ist Gihon; er umfließt das ganze Land Kusch. Und der Name des dritten Flusses ist Tigirs. Er fließt östlich von Assur. Und der vierte Fluss ist der Euphrat. Und JHWH, Gott, ergriff den Menschen und er ließ ihn im Garten Eden lagern, um ihn zu bearbeiten und ihn zu bewahren. Und JHWH, Gott, sagte: Es ist nicht gut, dass der Mensch mit sich alleine ist. Ich werde für ihn eine Hilfe machen wie ein Gegenüber zu ihm. Und JHWH, Gott, ließ ein Tiefschlaf auf den Menschen fallen und er schlief. Und er nahm von seiner Seite und schloss das Fleisch an der Stelle. Und JHWH, Gott, baute aus der Seite, die er von den Menschen genommen hatte, eine Frau. Und er ließ sie zu dem Menschen kommen. Und der Mensch sprach: Diesmal ist es Knochen von meinem Knochen, und Fleisch von meinem Fleisch. Und darum wird sie Männin genannt, denn vom Mann ist sie genommen.

Was brauchst du, um sorglos zu sein?

JHWH Gott formte den Menschen aus dem Staub des Erdbodens. Und er blies in seine Nase Atem des Lebens. Und der Mensch wurde zu einem lebendigen Wesen.

Gott formt den Menschen aus dem Staub der Erde. Doch ein lebendiger Mensch wird er erst durch den Atem, den er ihm einhaucht.
Ich atme ein und atme aus. Frische Luft strömt in meine Lunge. Gott versorgt mich mit lebensnotwendiger Luft. Die aktuelle Zeit hat uns noch einmal vor Augen geführt, wie es sein kann, wenn diese Luft fehlt und das Atmen schwerfällt. Ich atme das Leben ein. Gottes Leben in mir. Mit jedem Atemzug. Verbunden mit dem, der mir das Leben eingehaucht hat.

Ich bin sorglos, wenn ich Gottes Lebensatem einatme.  

Und JHWH, Gott, pflanzte einen Garten in Eden im Osten (…). Und JHWH, Gott, ließ vom Erdboden alle Bäume wachsen, begehrenswert anzusehen und gut zu essen.

Gott pflanzt einen Garten. Eine Gartenanlage. So groß, dass in ihm ein Fluss entspringt, der vier weitere Flüsse speisen kann. Ein Garten wie bei Königen, ein kostbares Stück Erde mitten in der Wüste. Eine Oase. Mit großen Bäumen, die Schatten spenden, Büschen und Sträuchern. Mit wunderbaren Früchten, die nicht nur gut aussehen, sondern auch gut schmecken. Gott pflanzt einen Garten mit allem, was der Mensch zum Leben braucht. Ein Ort, der nicht nur das Lebensnotwendige zur Verfügung stellt. Keine Berechnung einer Quadratmeterzahl pro Person; der nötigsten Güter, um zu überleben. Nein, ein Garten, in dem es die Fülle gibt. Eine Fülle, die anders ist als der Reichtum von Gold und Edelsteinen. Denn diese Form an Reichtum gibt es außerhalb des Gartens im Land Hawila. Im Garten Eden gibt es eine Fülle, die versorgt. Die satt macht, gut schmeckt und schön anzuschauen ist. Wohlig riecht und duftet. Sich gut anfühlt unter den Füßen.

Ich bin sorglos, wenn ich mit Fülle versorgt werde.

Und JHWH Gott ergriff den Menschen und er ließ ihn im Garten Eden lagern, um ihn zu bearbeiten und ihn zu bewahren.

Warum sind wir Menschen hier auf der Erde? Ganz beiläufig gibt der Text eine Antwort auf eine der größten Fragen der Menschheit. Um den Garten zu bearbeiten und bewahren. Um zu gestalten und zu formen. Zu schützen und zu erhalten. Der Mensch bekommt seine Berufung, einen Auftrag. Gott gibt ihm einen Wert und Sinn. Die Corona-Zeit hat manch einem gezeigt, wie es sich anfühlt, wenn Aufgaben wegbrechen, wenn das Bearbeiten gezwungenermaßen auf Stillstand steht. Viele haben angefangen ihren Garten neu zu gestalten. Das Haus neu zu streichen. Garten-Center und Baumärkte hatten Hochbetrieb. Der Mensch braucht eine Aufgabe. Enkelkinder betreuen, den Kaffeetisch für Besuch decken, Wäschefalten, eine Mail schreiben. Am Abend sehen können, das habe ich heute gemacht.

Ich bin sorglos, wenn ich eine Aufgabe habe.

Und JHWH Gott sagte: Es ist nicht gut, dass der Mensch mit sich alleine ist. Ich werde für ihn eine Hilfe machen wie ein Gegenüber zu ihm.

Zum ersten Mal, ist etwas in dieser Anfangsgeschichte der Menschheit nicht gut. Also schon irgendwie schlecht. Gott sorgt sich darum, dass der Mensch alleine ist. Und die Einsamkeit sie ist wirklich alles andere als gut. Auch das haben wir in der harten Zeit des Lockdowns zu spüren bekommen. Wie es ist, nur mit sich alleine zu sein, ohne ein Gegenüber – höchstens am Telefon oder auf der anderen Seite der Kasse beim Einkaufen. Auch wenn es ganz unterschiedlich aussehen kann, wie Menschen einander helfen können, eins steht fest: Der Text spricht von einer ‚Hilfe‘, nicht von einer ‚Aushilfe‘. Das Gegenüber steht dem Menschen nicht zur Verfügung und ist ihm untergeordnet, sondern ein gleichwertiges Gegenüber. So sehr der Text in der Tradition dafür genutzt wurde, den Mann über die Frau zu stellen, so wenig kann man es aus ihm herleiten. Denn nicht der Mann ist das erste Lebewesen, sondern der Mensch. Auch wird die Frau nicht aus einer überzähligen Rippe erschaffen, sondern aus der Seite des Menschen. Erst in dem Gegenüber entwickelt der Mensch seine ganze Identität und wird als Mann bezeichnet.

Zu der Zeit der Erzählung war es ganz klar, welche Geschlechter in einer Partnerschaft sein durften: Frau und Mann. Eine Zeit, in der ehelos sein sozial problematisch war. Doch das Gegenüber des Menschen lässt sich weiter fassen. So schreibt der niederländische Pfarrer Niko ter Linden: „Ohne den anderen ist der Mensch nur halb, ein Mensch braucht die andere Hälfte, etwas oder jemanden, dem man sich widmen kann, einen Mann, eine Frau, einen Freund, eine Freundin, eine Berufung, eine Aufgabe, der man sich widmen kann, ein Gegenüber, an dem man sich schärfen kann, einen Menschen zum Lieben und Trösten, zum Geliebtwerden und Getröstetwerden.“

Ich bin sorglos, wenn ich ein gleichwertiges Gegenüber habe.

Wenn ich in meiner Wohnung sitze und all diese Nachrichten höre, dann frage ich mich, wo bist du Sorglosigkeit? Wo bist du Eden?
Wo spüre ich Gottes Atem in meinem stickigen Alltag? Wo kann ich die Fülle in den überfüllen Regal noch sehen? Einen wahren Sinn hinter all den täglichen Aufgaben? Wo begegne ich einem Gegenüber, dass mich mich selbst besser erkennen lässt?

Ja, der Ort ohne Sorgen ist verschollen. Verborgen, vergessen und verschüttet. Eden ist nicht mehr da. Und nun sitzen wir hier Jenseits von Eden mit der Sehnsucht nach diesem unbeschwerten Ort im Herzen.
So wie Eden verloren ist, sehen manche auch die Corona Krise als einen Wendepunkt. Ein klarer Strich zwischen dem vor Corona und dem „Wie es jetzt ist“. Die alte Sorglosigkeit, sie ist nicht mehr. Stattdessen hat sich ein ‚new normal‘ eingespielt, eine neue Normalität. Doch es gibt einen Unterschied zwischen diesen beiden Orten. Die vor Corona Zeit haben wir betreten. Wir glorifizieren sie und sehnen sie herbei wie einen alten Bekannten. Plötzlich vereist. Im Nachhinein noch viel lustiger als in Wirklichkeit. Eden haben wir nie gesehen, nie gehört oder gefühlt.
Und trotzdem haben wir diese Ahnung von diesem Ort. Eine Sehnsucht nach dieser Welt, in der Gott und Mensch zusammen durch einen Garten spazierten. Es ist, als erinnere ich mich an etwas, das gut gewesen ist, wenn ich aus Sorgenbergen aufmache hin zum Garten Eden.
Wir sind Jenseits von Eden. Daran werde ich jeden Morgen neu erinnert, wenn ich die Nachrichten höre. Doch Gottes Zusage, für uns zu sorgen bleibt. In all der Widersprüchlichkeit.  Sein Atem in uns. Atem des Lebens. Ich sehe Eden aufblitzen in all der Fülle, die mich umgibt. Lilien auf dem Feld und bunten Dahlien. Sehe Eden neben mir Sitzen in einem Gespräch mit einem guten Freund. Möchte zum Gegenüber werden auch den Menschen in Moria. Eden leuchtet mir entgegen, wenn ich erfüllt von getaner Arbeit zuhause auf dem Sofa sitze. Ein Stück Eden zwischen all den Sorgen.
Was brauchst du, um sorglos zu sein?