Gegenbild Weihnachten

Ein letzter Pinselstrich noch, da wo das Licht ist… So, fertig!

Der Maler tritt einen Schritt zurück. Ja, so stimmt es, das Bild. Er hat lange daran gearbeitet, fast zwei Jahre. Hat Herzblut hineingelegt, immer wieder korrigiert, neu angesetzt. Es ist eine Auftragsarbeit für die kleine Kirche im Ort; die Maße wurden ihm vorgegeben, auch das Motiv, in allem anderen hatte er freie Hand. Und er ist zufrieden. Es ist gut geworden.

Ob die Leute es auch so sehen werden? Wenn sie zum Gottesdienst in die Kirche kommen, um zu beten, zu singen, das Evangelium zu hören, werden sie als erstes sein Bild sehen, vorne am Altar. Und darauf Maria, Josef, die Hirten, das Kind – und Licht am Horizont, viel Licht. „Anbetung der Hirten“ soll es heißen.

So ähnlich mag es gewesen sein, als Gottlob Zimmermann um 1840 das Altarbild für die alte ev. Kirche in Königssteele fertigstellte. Als diese 30 Jahre später abgerissen wurde, entschied das Presbyterium, das Altarbild zu behalten und in die neue Friedenskirche zu übernehmen. So haben wir bis heute hier und schauen auf Maria, Josef, die Hirten, das Kind – heute am 1. Weihnachtstag, aber auch in jedem anderen Gottesdienst, bei allen Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen. (Foto: Jörg Parsick-Mathieu)

Manch einer mag den Stil kitschig finden. Die weichen Farben und Formen, die fromme Haltung der Hirten, die blasse, brave Maria – so malte man in der Romantik. Ein Stück an der Realität vorbei. Oder sagen wir: über die Realität hinaus. Die Geburt im Stall war nicht romantisch, sie war ein blutiges Geschehen zwischen Futter und Mist, ein Stöhnen und Pressen in einer zugigen Notunterkunft ohne Stern. Das alles malt Zimmermann nicht. Er malt heile Welt, er malt Weihnachten, so wie er es sieht.

Heile Welt?

Wir haben ein Jahr hinter uns, in dem die Welt eher aus den Fugen scheint. Corona hat uns immer noch fest im Griff. Das Virus spaltet die Gesellschaft. Verschwörungstheorien sind nicht klein zu kriegen. Querdenker und Extremisten gefährden den Frieden. Während wir in Europa uns Gedanken um die 3. und 4. Impfung machen, sind in anderen Teilen der Welt kaum 10 % der Menschen das 1. Mal geimpft. Verteilungskämpfe sind im Gange, vielerorts führen Menschen Krieg – um Land, um Macht, um Wasser, um Wirtschaftspotential. Persönliche Frustrationen verführen manche zu Drohgebärden und handfesten Drohungen im Netz.

Einige glauben: Die Welt steht am Abgrund. Und manche sind besorgt oder haben regelrecht Angst. Um ihre Existenz, ihre Gesundheit, die Zukunft der Kinder. Um den menschlichen Zusammenhalt.

Und wir feiern Weihnachten. Auch in diesem Jahr. Gerade in diesem Jahr! Wir feiern das Kind in der Krippe, zu dem ein paar Hirten kommen. Wir schauen auf das Kleine, das Schwache und Leise, das uns Gott nahe bringt. Wir feiern ein Stück heile Welt, auch wenn wir wissen und sehen, dass die Welt nicht so ist. Dass unser Leben nicht so ist. Aber wir sehnen uns danach, gerade zu Weihnachten. Wir sehnen uns nach diesem Stück heiler Welt, nach Frieden, nach innerer Ruhe, Versöhnung, nach Heilung und Kontakt.

Die Bilder und Geschichten von Weihnachten nähren diese Sehnsucht. Sie machen sie groß. Und geben ihr Recht. Denn in dem Kind hat Gott einen neuen Anfang gemacht, der überaus lebendig ist. Mit dem Kind kommt Licht in unser Dunkel. Zart und stark zugleich. Wir dürfen hoffen.

So kann es gelingen, die Sehnsucht zu erden, ansatzweise zumindest. Es kann gelingen mit den versöhnenden Worten, mit dem „Frieden auf Erden“, und sei es nur für einen Moment, es kann gelingen mit der heilenden Wärme, die von Weihnachten ausgeht, und ein Engel streift leise die Tür.

Wir brauchen solche Gegenbilder. Unsere globale Welt, wir alle, jeder von uns ganz persönlich, braucht sie gegen all die durchaus berechtigten Untergangsbilder unserer Tage. Wir brauchen die Gegenbilder wie Luft zum Atmen, Wasser zum Trinken, Brot zum Essen. Sonst würden wir verrückt.

Und so brauchen wir auch das Gegenbild von Weihnachten, „alle Jahre wieder“ und ganz besonders in diesem Jahr, um nicht zu resignieren, um Stand zu halten. Die Welt geht nicht aus den Fugen. Denn das Kind in der Krippe hält sie in Händen.

Pfarrerin Hanna Mausehund