neue Heimat

Es ist kalt an diesem Novembermorgen in Walthamstow im nördlichen London. Der Regen fällt auf den kleinen Bauernmarkt, auf den sich an diesem frühen Sonntag nur wenige Menschen verirren. Jeden Sonntag baut eine kleine Gruppe an Ehrenamtlichen der Gemeinde St. Lukes mitten auf dem Platz einen Pavillon auf und gibt Kaffee und Tee aus. Eine Kirche ohne Wände. Der Wind pfeift durch den Pavillon und die Freude über ein warmes Getränk könnte nicht größer sein. Verbunden wird dies mit einem offenen Ohr und Hilfe für Menschen, die darauf angewiesen sind: Viele Obdachlose kommen oder Menschen in schwierigen Verhältnissen, die hier eine Anlaufstelle finden.
Es ist Gottesdienstzeit in St. Luke’s und die wärmenden Getränke sind das übliche Willkommensprogramm. Der Kern der sonntäglichen Arbeit startet danach. Dann nämlich kommen alle zusammen und beten etwas abseits von den Ständen für ihre Anliegen. Es sind die Verstreuten der Gesellschaft, die hier zum Gebet zusammenfinden, zum allergrößten Teil Männer. Am Rande des Marktplatzes stehen sie beisammen, eine Gruppe von zwanzig Gestalten. Anliegen werden von den Anwesenden laut in die Gruppe gerufen und so gesammelt, es wirkt etwas chaotisch, aber trotzdem ernsthaft. So beten sie an diesem Morgen dafür, dass es noch nicht friert, und danken, dass es am Vortag genug Essen gab, dass der und die Hilfe gefunden hat, dass sie am Leben sind.

„Wir haben Post. Es gibt Neuigkeiten von dem Propheten Jeremia aus unserer Heimat Israel,“ ruft ein Junge und rennt aufgeregt durch die Gassen des Viertels in der Hauptstadt von Babylon. Er wirbelt eine Wolke Staub auf und kommt schliddernd auf einem kleinen Platz zum Stehen. „Kommt und hört, was Jeremia uns von Gott zu sagen hat.“ Schnell versammelt sich eine Gruppe an Israeliten um ihn herum. „Hoffentlich hat Jeremia uns diesmal etwas Gutes zu sagen. Viel schlimmer kann es eh nicht mehr werden“, murmelte ein Mann resigniert.
Sie hatten den Krieg gegen die Babylonier verloren. Der Tempel war geplündert worden. Immerhin hatten die Babylonier nicht das gesamte Volk nach Babel verschleppt, sondern nur die Elite. Aber was ist das schon für ein Trost für all die, die in der Ferne sitzen? Ohne das, was das Leben so vertraut und sicher macht. Den gewohnten Straßen und Häusern; den Olivenbäumen, unter denen ihre Großväter abends gesessen hatten und davor deren Großväter über Generationen hinweg. Ohne den Tempel in Jerusalem, dem einzigen Ort, an dem Gott wohnt. Hier konnten sie ihn nicht finden. Denn hier wohnten andere Menschen, mit anderen Namen, anderen Göttern, anderem Essen und anderen Gebräuchen.

Einer der Ältesten nimmt die Schriftrolle und beginnt zu lesen:

So spricht der Herr der Heerscharen, der Gott Israels, zu allen Weggeführten, die ich weggeführt habe von Jerusalem nach Babel: Baut Häuser und wohnt darin und pflanzt Gärten und esst ihre Früchte.
Als der Älteste den Satz beendet hat, tritt Stille ein, so als hätte jemand mit einem einzigen Luftzug das erwartungsvolle Knistern ausgepustet. „Was fällt dem ein!“, bricht ein Mann die Stille. „Der hat ja gut reden. Sitzt da schön in unserer Heimat Israel und lässt es sich gut gehen.“ „Heißt das, wir können nicht bald wieder nach Hause?“, ruft ein Kind. Ein Handwerker antwortet: „Diese Hoffnung hat er uns mit diesen Worten gründlich kaputt gemacht.“ „Wir sollen hier in Babel Häuser bauen“, meldet sich ein Priester zu Wort. „Umgeben von Menschen, die uns feindlich gesinnt sind. Weit weg von unserem Tempel?“

Heimat kann auf so unterschiedliche Weisen verloren gehen. Heimatliche Orte. In Schlesien oder Ostpreußen. Das Heimatland. Syrien oder Afghanistan ein Meer weit weg. Zerbombt und in Schutt und Asche. Das traute Heim: Die Wohnung, die mit dem Umzug ins Seniorenheim zurückgelassen werden musste. Heimat verlieren heißt: Vertraute Wege verlassen. Heimat verlieren kann auch heißen: Zusehen müssen, wie selbstverständlich Geglaubtes ins Wanken gerät. Zum Beispiel auf eine Feier so viele Menschen einladen, wie man möchte. Oder Familie und Freunde treffen, ohne auf Abstände zu achten, Gottesdienst feiern und dabei Lieder singen. Vertrautes gerät ins Wanken und ich merke, wie ich mich nicht mehr wohlfühle in meiner Umgebung. Wie mich das Neue, das da auf mich zukommt, zutiefst verunsichert. Ich möchte am liebsten die Zeit zurückdrehen und weiß doch, ein einfaches Zurück zu dem alten So-wie-immer gibt es nicht.

Die Gruppe an Israeliten steht immer noch zusammen und diskutiert über das, was sie gerade gehört hat. „Ruhe“, ruft der Älteste. „Ruhe, der Brief geht noch weiter“:
Und sucht das Wohlergehen der Stadt, wohin ich euch weggeführt habe. Und betet für sie zum Herrn, denn in ihrem Wohlergehen wird für euch Wohlergehen sein. Denn ich selbst kenne die Gedanken, die ich über euch denke –  Gedanken des Wohlergehens und nicht des Unheils, um euch Zukunft und Hoffnung zu geben. Und ihr werdet mich anrufen und hingehen und zu mir beten. Und ich werde auf euch hören. Und wenn ihr mich sucht, werdet ihr mich finden. Ja, wenn ihr von ganzen Herzen nach mir fragt, lasse mich von euch finden.
„Was ist, wenn wir tatsächlich auch hier in der Fremde Schalom finden können, wie es Jeremia schreibt?“, fragt ein junger Priester zögerlich und wendet sich den Älteren zu. „Du weißt, was Schalom alles heißt: Frieden und Wohlergehen, Gesundheit und Wohlstand,“ gibt einer von ihnen zu bedenken.

Jeremias Worte eröffnen eine neue Perspektive auf die Situation, die sich fremd anfühlt. Richtet euch ein. Die Worte durchkreuzen das „Ach, wäre es doch wie früher“ und ebenso das „Wie soll es bloß werden?“ Was ist, wenn es stimmt und ich auch im Hier und Jetzt eine neue Beheimatung finden kann? Jeremia spricht davon, dass das erst geschehen kann, wenn ich mich einrichte. Die Kisten auspacke und Bilder aufhänge. Mich bei den Nachbarn vorstelle. Und irgendwann wird es dann passieren, dass ich auf dem Weg zum Bäcker ein bekanntes Gesicht treffe, das ich grüßen kann. Wenn ich mich einrichte, tue ich dies in der Hoffnung, dass es ein Morgen und ein Übermorgen gibt. Wenn ich Blumen und Gemüse anpflanze, hoffe ich darauf, dass wieder gute Zeiten kommen, in denen ich ernten kann. Ich hoffe, dass ich mich eines Tages über all das freuen kann und es mir gut geht. Das ist das Schalom, von dem Jeremia spricht. Wohlergehen. Und vielleicht gewinne ich so in all der Unsicherheit Schritt für Schritt wieder einen klareren Blick auf meine Umgebung und kann mich umschauen. Wer läuft links und rechts neben mir?

Und sucht das Wohlergehen der Stadt, wohin ich euch weggeführt habe. Und betet für sie zum Herrn, denn in ihrem Wohlergehen wird für euch Wohlergehen sein. Was sucht die Gemeinde St. Lukes auf diesem Marktplatz in Nordlondon? Die Ehrenamtlichen sind dort, wie es scheint, nicht zu Hause. Das erkennt man schnell an der unterschiedlichen Qualität der Kleidung. Gefütterte Daunenjacke hier und zerschlissene Sommerjacke, die Wind und Regen nicht standhält dort. Was ist, wenn es stimmt, was Jeremia schreibt? Wenn eine Gruppe, um die die meisten einen Bogen macht, durch ihr Gebet etwas zum Wohl der Stadt beitragen kann? Ja, und umgekehrt auch die verstreuten Mitglieder der Gemeinde St. Lukes. Fern ab von den sakralen Räumen der Kirche, dem Altar und der Orgel.

„Wir haben Post bekommen.“ Die schrillen Worte des kleinen Jungen hallen noch lange in den Köpfen der Israeliten nach. „Gottes Worte haben so viele unserer Hoffnungen und Träume zerstört“, meint ein Mann mit bitterer Miene. Ein anderer antwortet hoffnungsvoll: „Aber Gott hat auch davon gesprochen, dass er tief in seinem Inneren Gedanken des Wohlergehens und nicht des Unheils trägt. Das heißt, er hält eine Zukunft für uns bereit und seine Zusage beginnt schon jetzt.“ „Ja, aber eine ganz andere Zukunft, als ich sie erwartet hätte“, seufzt der Mann.
Jeremias Worte eröffnen eine neue Perspektive für Israel: Gott ist nicht fern, sondern lässt sich finden. Auch in Babylon. Auch ohne Tempel. Sie können auf diesen Hoffnungsworten ein neues Leben aufbauen. Denn bei allem Bauen, Pflanzen und Suchen sind sie von Gottes guten Gedanken begleitet.

Denn ich selbst kenne die Gedanken, die ich über euch denke Gedanken des Wohlergehens und nicht des Unheils, um euch Zukunft und Hoffnung zu geben. Gott gibt uns Anteil an seinem Innersten, an seinen Gedanken und Plänen. In Momenten, in denen das Vertraute wegbricht und wir uns neu zurechtfinden müssen, verspricht er uns, dass er es gut mit uns meint. Die Fremde bleibt eine Zumutung, die Einschränkungen belastend. Doch Gott sagt uns zu, dass er ein Morgen und ein Übermorgen für uns bereithält. Er spricht: Ich lasse mich von euch finden, schaut nur. Ich bin beim Auspacken der Kisten dabei, auch in dieser fremden Situation. Gott schenkt Wohlergehen, Schalom, und eine tiefe Geborgenheit in seinen guten Gedanken. In ihnen kann ich Kraft tanken für die Suche nach dem Wohlergehen in meinem Stadtteil. Habe ich mich erst einmal eingelebt, Normalität und Routine geschaffen, kann ich mich auf die Suche machen. Die Augen offen halten für das, was noch nicht ist, aber noch werden kann. Auf der Suche nach dem Schalom für die Menschen um mich herum. Wo können wir hier in Steele wohlwollend Unterstützung anbieten?

Und sucht das Wohlergehen der Stadt, wohin ich euch weggeführt habe. Und betet für sie zum Herrn, denn in ihrem Wohlergehen wird für euch Wohlergehen sein. Es ist kalt an diesem Novembermorgen in Walthamstow im nördlichen London. Ein Kreis an Ehrenamtlichen von St. Lukes und die Pfarrerin stehen auf dem Marktplatz. Vor sieben Jahren haben sie sich in einer unbequemen Lage auf die Suche gemacht und ihre Heimat verlassen. Die Gemeinde hatte kein Geld mehr, um das Kirchgebäude zu halten. Das Leben im Stadtteil fand woanders statt und so haben sie sich dazu entschlossen, dorthin zu gehen, wo die Menschen sind. Auf der Suche nach dem Wohlergehen verließen sie ihre vertrauten Räume und machten sich auf zu den Verstreuten der Gesellschaft.

Mit Gott an unserer Seite können wir an ungewohnten Orte und in neuen Situationen Mut fassen. Denn in ihm finden wir eine Heimat, die nie verloren gehen kann.