Ostern auf dem Friedhof

Eine Predigt von Johannes Heun mit Johannes 20,11-18 – Ostern 2019

 

Ich fahre den Hellweg von Steele nach Freisenbruch hinauf.

Ein vertrauter Weg inzwischen,

rechts und links parkende Autos,

ich mittendrin auf meinem Fahrrad.

Links das Kiosk. Dann die Schulen.

Rechts unser Krankenhaus – das ehemalige Lutherhaus und das Hospiz.

Noch eine Kreuzung, dann bin ich am Ziel.

Ich steige ab und schiebe mein Rad durch das Eisentor.

Hier stehen große Platanen und ihre Blätter rauschen im Wind.

Ich gehe an grünen Hecken und rot blühenden Büschen vorbei

und denke an die vielen, die hier sind,

die vielen, die ich persönlich oder nur vom Hörensagen kannte.

Bei manchen weiß ich noch, wo sie begraben liegen.

Andere erkenne ich gleich wieder, wenn ich ihre Namen lese

 

Maria aber stand draußen vor dem Grab und weinte.

Während sie nun weinte, beugte sie sich in das Grab hinein.

Und sie sieht zwei Engel sitzen in weißen Gewändern,

einen zu Häupten und einen zu Füßen, dort, wo der Leib Jesu gelegen hatte.

Und sie sagen zu ihr: Frau, was weinst du?

Sie sagt zu ihnen: Sie haben meinen Herrn weggenommen,

und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben.

 

Es ist früh am Morgen. Sie ist wach vor allen anderen,

Maria Magdalena macht sich auf den Weg.

Nur raus hier. Sie will lieber alleine sein.

Mit den anderen zusammen ist eh alles nur grau und traurig.

Sie läuft durch die Stadt und will weg.

Die Sonne geht gerade auf, da findet sie den Garten.

Sie geht durch das Tor.

Wenigstens frische Luft schnappen, die Vögel singen hören,

nach dem Geschrei und dieser unheimlichen Stille die darauf folgte.

 

Das wird ihr guttun.

Und wenn die Tränen wieder kommen,

dann kann sie dort unbeobachtet weinen, an dem Grab mit dem Stein davor.

Über die Steine der Stadt geht Maria Magdalena

in einen Garten, der ein Friedhof geworden ist.

Blühende Beete zwischen den Felsen.

 

So geht Trauer.

Noch einmal hingehen, immer wieder hingehen zu dem Ort.

Hier haben wir Abschied genommen.

Hier ist der Verlust noch immer spürbar.

Hier sind unsere Toten.

Die wir kannten, um die wir trauern, um die wir weinen

und die wir immer noch lieben.

Hier.

An diesem Ort können wir mit ihnen reden.

An sie denken, noch für sie sorgen.

Mit einem schönen Stein, mit den Worten darauf

und den Worten in unseren Gedanken.

Mit Kerzen und Tannengrün im Herbst, mit bunten Blumen im Frühjahr.

Und ich frage mich, wieso wir Ostern nicht auf dem Friedhof feiern.

Die Kapelle auf unserem dort oben zwischen Hellweg und

Bochumer Landstraße heißt immerhin Auferstehungskapelle.

Wahrscheinlich wissen das die wenigsten, wenn sie dort um ihre Toten weinen.

Und ich habe da schon viele Tränen gesehen.

Und manchmal hätte ich am liebsten mit geweint.

 

«Was weinst Du?» wird Maria gefragt.

Dass sie ihren Verstorbenen nicht finden kann,

obwohl sie sein Grab gefunden hat, macht ihre Trauer noch größer.

Sie weint und wird dann doch gesehen.

Und sie fragen nach, was meinst du, wenn du weinst?

Eine Nachfrage, von welchen, die es genauer wissen wollen

die nicht wegsehen, sondern sich für sie mit ihren Tränen interessieren.

Weinst du um ihn, weil er solches erleiden musste

oder mehr um dich, weil du ohne ihn zurückbleibst?

Weinst du um die Zeit, weil du an die schönen Momente denkst

und an das, was noch hätte kommen können?

Um die verpassten Chancen

und Wünsche, die jetzt unerfüllt bleiben werden?

 

So geht Trauer.

Wenn einer oder zwei kommen und fragen: Was weinst du?

und dann kommt es raus, aus der Tiefe des Herzens.

Dort wo es festsaß.

Aber mit den Tränen löst es sich wieder

und wird an die Oberfläche geschwemmt.

Was ich so gerne tun wollte und nie getan habe.

Was ich noch einmal hätte sagen wollen und doch nicht gesagt habe.

Ich sag’s dir viel zu selten: es ist schön, dass es dich gibt.

Was ich so gut kannte und doch nicht richtig erkannt habe

Im Rückblick sehe ich, was für ein Mensch mir verloren gegangen ist.

Wen ich vermissen werde und wer mir noch bleibt

Und die Ungewissheit darüber, wie viel Zeit uns noch bleibt.

Wie viel Zeit mir noch bleibt.

Das weine ich.

 

Und als sie das sagte, wandte sie sich um,

und sieht Jesus dastehen, weiß aber nicht, dass es Jesus ist.

Da sagt Jesus zu ihr: Frau, was weinst du? Wen suchst du?

Weil sie meint, es sei der Gärtner, sagt sie zu ihm:

Herr, wenn du ihn weggetragen hast,

sag mir, wo du ihn hingelegt hast, und ich will ihn holen.

 

Das kann ja nur der Gärtner sein, der hier nach dem Rechten sieht.

Vielleicht weiß er ja, wo der Verlorene ist,

dann kann man den noch einmal ins Grab legen, diesmal endgültig,

den Stein davor und weggehen mit dem grauen Fleck im Herzen.

So geht Trauer doch.

Da kann man ja nichts machen.

Das Leben muss doch weitergehen.

Sie ist schon auf dem Weg zurück in ihren Alltag, aus dem sie heute Morgen kam.

Maria Magdalena ist schon vorbei an dem Gärtner,

will hinaus auf die Straße zurück in die Stadt.

Da dreht sich der Gärtner um und Jesus sagt zu ihr: Maria!

Da wendet sie sich um und sagt auf Hebräisch zu ihm:

Rabbuni!

Das heißt ‹Meister›.

 

In diesem Augenblick ist es wie beim Beginn,

so wie in dem ersten Garten, von dem die Bibel erzählt.

Da sind eine Frau und ein Mann und sie erkennen sich.

Die Welt ist komplett, beide sind verbunden

und aufgehoben im Blick des anderen.

Vollkommene Gemeinschaft in einem Garten, in dem Gott präsent ist.

Garten- und Landschaftsbauer und Baumgutachter

und Bewässerungstechniker und noch so viel mehr – Schöpfer des Lebens.

So steht Maria an diesem Gartengrab vor Jerusalem,

auf diesem Friedhof der in jenem Augenblick wird wie der erste Garten,

in dem noch kein Tod war.

Nur zwei Menschen, nur zwei Namen.

Adam und Eva von Eden.

Maria Magdalena und Jesus von Nazareth.

Manchmal gibt es das im Leben, dass du einem Menschen so begegnest.

Nur zwei Namen, nur du und ich, Blicke begegnen sich.

Dann beginnt das Leben neu und der Tod ist nicht da

für einen Augenblick.

 

Maria aus Magdala und Jesus aus Nazareth.

In den Augen dieser Frau kommt er zur Welt,

als Auferstandener in diesem Moment.

Was keine Frau je zuvor gesehen hat, Maria sieht es.

Der schwer auffindbare Gott wandelt sich durch unser Suchen.

Der Dunkle, Geheimnisvolle wird hell und erstrahlt in diesem bunten Garten

in allen Farben des Regenbogens.

Er wandelt sich durch unsere Tränen.

Schon immer war er da, auch an den grauen Tagen,

jetzt leuchtet er auf und wird sichtbar, hörbar wie eine vertraute Stimme.

Doch festhalten kann auch Maria ihn nicht

nicht einmal in ihrer Liebe,

in ihrer leidenschaftlichen Sehnsucht nach ihm.

Jesus sagt zu ihr: Rühre mich nicht an!

Denn noch bin ich nicht hinaufgegangen zum Vater.

Geh aber zu meinen Brüdern und sag ihnen:

Ich gehe hinauf zu meinem Vater und zu eurem Vater,

zu meinem Gott und zu eurem Gott.

 

Selbst Maria Magdalena kann ihn nicht fassen.

Auch sie muss weiter gehen, weg vom Grab und wieder aus dem Garten.

Sie nimmt etwas mit.

Ich habe den Herrn gesehen.

Mit diesem Augenblick im Herzen geht sie

durch das Tor hinaus auf die Straße zurück in die Stadt.

Da hinten wird’s schon wieder heller.

Vertrautes Pflaster.

Ein neuer Weg.

Ich gehe ihr hinterher.

 

Amen.

 

 

(Wesentliche Gedanken und Worte verdanke ich Pfarrerin Kathrin Oxen und ihrer Predigt „Wege aus der Trauer.“ Vielen Dank.)