Worum trauern am Volkstrauertag?

Worum trauern wir am Volkstrauertag? Trauern wir überhaupt noch, 75 Jahre nach Kriegsende? Oder ist das eher ein alter Zopf? Mit dem die jüngere Generation kaum noch etwas anfangen kann?

Ich will mich dieser Frage über einen persönlichen Zugang nähern.

Am kommenden Sonntag würde mein Vater 100 Jahre alt. Er wurde am 22. Nov. 1920 in Wuppertal geboren. Dort ist er mit dem älteren Bruder zusammen aufgewachsen.

Als der 2. Weltkrieg begann, war er noch keine 19 Jahre alt. Er hätte im WS 39/40 mit dem Studium beginnen können, doch auf Druck seines Vaters meldete er sich als Kriegsfreiwilliger. Es gibt ein Foto aus dem Frühjahr 1942, das ihn in Uniform zeigt, mit dem Hakenkreuz am Revers. Für mich als Tochter ist dieses Foto auch 80 Jahre später schwer anzusehen. Ich sehe vor allem, wie jung mein Vater damals war, 21. Kein Kind mehr, aber so jung, verletzlich, formbar, einem System ausgeliefert, dessen rassistisches Weltbild auf Befehl und Gehorsam basierte, das Freund und Feind klar definierte, Herrenmenschen und Untermenschen, Sieg und Heil und Raum im Osten.

Mein Vater starb 1979. In den Jahren vor seinem Tod beschäftigte er sich intensiv mit Familiengeschichte. Auch mit seiner eigenen Geschichte. Unermüdlich tippte er auf der Schreibmaschine Seite um Seite und ließ das Gesamtwerk in fünf schmalen Bänden binden. Darin haben die Kriegsjahre ein eigenes Kapitel. Als ich darin jetzt noch einmal las, fiel mir wieder auf, wie (in meinen Augen) unkritisch er diese Zeit beschreibt. Minutiös und fast ein wenig stolz, so scheint es mir, zählt er auf, wann er wo als Soldat eingesetzt war, von glücklich überstandenen Verletzungen, vom erschreckenden Tod der Kameraden, von eisigen Temperaturen beim Feldzug gegen Russland. Doch kein Wort darüber, wie er mit dem Abstand von 30 Jahren über diese Zeit denkt, über die 12 Jahre Naziherrschaft, die ihn und seine Generation geprägt haben. Wie sehr war er darin verstrickt? Wie überzeugt vom NS-Gedankengut? Was hat er sich persönlich zuschulden kommen lassen? Wie hat er das Trauma des Krieges für sich bearbeitet? Ich weiß es nicht.

Wie in den meisten Familien wurde auch bei uns nicht über diese Fragen gesprochen. Die Jahre schienen wie ausgelöscht. Ein unausgesprochenes Tabu. Nach 1945 galt es zu überleben, nach vorne zu schauen, Aufbauarbeit zu leisten, sich einzurichten im Frieden. Und das gelang überraschend schnell. Die traumatischen Erlebnisse im Schützengraben, in den Gefangenenlagern, auf den langen Flüchtlingstrecks, in den Luftschutzkellern – all dies wurde zur Seite geschoben und begraben. So gut es ging. Aber es war nicht weg.

Es hat das Leben dieser Generation und ihrer Kinder und Enkel weiter bestimmt. Mag es auch gelungen sein, die Erlebnisse jahrzehntelang zu „vergessen“, so schlummern sie doch unter der Oberfläche und tauchen irgendwann wieder auf. Oft im Alter. Wenn der Kreis sich zu schließen beginnt und die Vergangenheit wieder lebendig wird. Bei Trauergesprächen höre ich manches Mal von Angehörigen den Satz: Sie hat zuletzt immer nur vom Krieg erzählt, von der schlechten Zeit. Oder: von der Flucht, von ihrem gestorbenen Kind. Das war alles wieder so präsent.

Es ist inzwischen bekannt, dass auch die nachfolgenden Generationen, die Kriegskinder und -enkel, an den Erfahrungen ihrer Väter und Mütter tragen. Dieses Erbe äußert sich z.B. in diffusen Ängsten vor Dunkelheit, Enge, Blitzlicht, Lärm; im Zwang, immer alles aufessen oder eine Tür offenstehen haben zu müssen. Die Kriegsjahre haben lange Schatten.

Worum trauern wir am Volkstrauertag?

Ich trauere um eine Vater- und Mutter-Generation, die Täter und Opfer war; die missbraucht wurde und missbraucht hat. Die Schuld auf sich geladen hat und der Schuld angetan wurde. Die meinte, schweigen zu müssen, um weiter leben zu können. Die mit ihrer Schuld, ihrem Erschrecken, ihrem Leid allein gelassen war. Es gab ja nicht wie heute selbstverständlich Therapieangebote, Hilfe beim Bewältigen des Unfassbaren. Man kam allein klar, irgendwie.

Ich trauere um uns, die nachfolgende Generation, die wir das Erbe der Väter und Mütter, Großväter und Großmütter tragen und manchmal daran leiden, vielleicht unbewusst und ohne die Zusammenhänge klar zu sehen.

Ich trauere um die Opfer, deren Leben willkürlich zerstört wurde. Kinder, Frauen und Männer, Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, Menschen mit Behinderungen, Widerständler und Andersdenkende, Bombenopfer und Flüchtlinge. Um die vielen unbestatteten Toten auf den Schlachtfeldern der Welt.

Ich trauere um die schreckliche Fähigkeit von uns Menschen, anderen Leid zuzufügen, zu quälen, zu hintergehen, zu demütigen, zu ermorden. Im großen Weltgeschehen und im kleinen familiären Raum.

Ich trauere und spüre, wie groß die Trauer wird, wie unfassbar viel zu beweinen wäre, bis in unsere heutige Zeit und Welt.

In meiner Trauer wende ich mich an Gott, den Liebhaber des Lebens, den großen Tröster. An wen, wenn nicht an ihn? – Gott löscht den glimmenden Docht nicht aus, sondern schaut auf das Verlorene und Gebrochene mit Liebe. Gott hat ein Ohr auch für die ungesagten Worte, die uns im Hals stecken bleiben, weil sie allzu Schweres ans Licht bringen könnten. Gott nimmt Lasten und heilt Herzen. Gott schenkt Vergebung und Versöhnung. Und die Kraft, die Wahrheit anzusehen.

Ohne das Ansehen dessen, was ist oder war, gibt es keinen Frieden, keinen inneren und keinen äußeren Frieden. Im Hinschauen liegt der erste Schritt von Versöhnung und Neubeginn. Tage wie der Volkstrauertag sind wichtige Landmarken auf diesem Weg.

Wir tragen an unserer deutschen Geschichte, bis in die eigene Familie hinein, ja, aber wir sind auch dazu befähigt, die Zukunft neu und anders zu schreiben. In Respekt und Menschenfreundlichkeit, mit offenen Herzen, im Vertrauen auf Gott, der der Gott aller Menschen ist. Er schenkt Frieden und er ruft zum Frieden „Selig ist, wer Frieden stiftet“, sagt sein Sohn Jesus. Mehr Frieden kann werden durch heilende Worte und Gesten, durch Zuhören, Vertrauen, gegenseitige Ermutigung.

Lasst uns damit neu anfangen, an je unserem Platz. Gottes Friede, der höher ist als unsere Vernunft, möge uns erfüllen, beflügeln, stark machen und bewahren.

Pfarrerin Hanna Mausehund